Eine Kindheit in der Cité Paris, Baden-Baden
Von 1972 bis 1981 verlebte ich meine Kindheit in eine der Cités (französischen Wohnsiedlungen) der Kurstadt Baden-Baden. Ich besuchte die französische Grundschule Ecole Paris und machte mein Abitur im Gymnasium Lycée Charles de Gaulle, nach dem Umzug meiner Familie in die "deutsche" Innenstadt.
Ein ganz besonderer Weihnachtstag
Seit langem hatte ich endlich mal wieder Zeit für mich am Weihnachtsmorgen. Viele Jahre hintereinander hetzte ich nach Arbeitschluss gleich ins Auto und zur Familie nach Frankreich. Doch diesmal hatte ich frei an diesem 24. Dezember 2003. Es war ein schöner sonniger Vormittag.
Vor einigen Wochen hatte ich in der Lokalzeitung gelesen, dass die Gebäude in einer der ehemaligen französischen Wohnsiedlungen der Stadt Baden-Baden bald abgerissen werden sollten. Es war die Cité Paris in der ich aufgewachsen war. Die Adventszeit hatte ich besinnlich damit verbracht Weihnachtsplätzchen zu backen und oft war das Wetter nicht gut genug zum fotografieren. Ich hatte mir immer fest vorgenommen noch etwas mit der Kamera festzuhalten von der Zeit als die Franzosen in der Kurstadt waren, bevor die Bagger kamen. Nun hielt ich es nicht mehr aus. Der Koffer war gepackt, die Geschenke auch. Ich fuhr raus zur Vogesenstrasse.
Auf dem Weg
Zuerst fuhr ich die Bauernfeldstrasse hoch, in Richtung des ehemaligen Gymnasiums. Doch die Tore der Medien und Event-Akademie waren Weihnachten selbstverständlich zu. Einige Häuser in Höhe des Einkaufzentrums Economat Paris waren renoviert und erstrahlten in fröhlichen Farben. Dann kam an der Kreuzung zur Hubertusstrasse die erste Überraschung: freier Blick auf die Grundschule. Dort wo früher mal meine Schulkameradin Danièle gewohnt hatte, klaffte eine große Lücke. Vorbei am ehemaligen Hotel Paris in der Vogesenstrasse, sah ich nun die ersten abgerissenen Gebäude auf der rechten Seite. Auf dem ehemaligen Tenniscenter der französischen Garnison waren große Steinhaufen. Das Klubgebäude war abgerissen, und die grüne Betonwand an der wir Kinder immer trainiert hatten, war auch nicht mehr da. Dort in der Nähe der Tennisplätze ist eine leichte Kurve, und es gab einen großen hoch umzäunten Platz für die Kinder zum Fahrrad fahren. Er war geteert gewesen mit kleinen kindgerechten Strassen und Wegen, Kreuzungen und Kreisverkehren. Es gab diesen Platz nicht mehr. Dort standen mehrere Bagger und wieder große Erdhaufen.
Kohlenkeller
Ich stellte mein Auto in der Nähe der Pharmacie ( Militärapotheke) ab, und lief den kleinen Hügel rauf zur Vogesenstrasse 14. Das Gebäude stand offen. Mein Puls stieg. Es war kein Laut zu hören. Ich war ganz alleine mit meinen Erinnerungen. Klopfenden Herzens ging ich ins Haus hinein. Rechts war der Eingang zum Keller. Als Kind sollte ich nie alleine in den Keller gehen. Die Häuser waren mit Kohle beheizt gewesen und es gab immer einen Heizer. Die Wände des Kellers waren daher schwarz und der Mann der immer schweigsam seiner Arbeit im Heizungsraum nachging war mir als Kind unheimlich. Wenn die Kohle angeliefert wurde, blieben allerdings meistens einige Stücke draußen vor dem Keller übrig, und darüber freuten wir uns Kinder immer. Manchmal spielten die Jungs dann auch mal mit, wenn wir Mädchen mit den Kohlestücken auf den Steinboden vor den Häusern Himmel und Erde (le jeu de la marelle) aufzeichneten.
Adresse: Champs-Elysées, Paris
Das Haus in dem wir wohnten hatte von außen mehrere Eingänge. Der eine Eingang hatte die Hausnummer 12, unserer die Nummer 14. Doch es war natürlich schöner jedes Jahr am Schulanfang ( Rentrée des classes) auf die Klassenzettel für die Lehrer zu schreiben: Adresse? Bloc Champs-Elysées Cité Paris. Niemand schrieb die deutsche Adresse auf. Man hatte höchstens noch eine SP- Adresse. In den französischen Zonen gab es für jede Adresse einen "postalischen Sektor" , einen Secteur Postal. Baden-Baden hatte SP 69xxx. Ich ging im Hausflur die ersten paar Stufen hoch. Dort waren sie ja, die drei Briefkästen der Bewohner. Und auf der gegenüberliegenden Seite war die zweite Tür, durch die ich jeden Morgen ging um schnell zur Schule zu kommen, geschwind draußen die lange Treppe hoch, quer über den Spielplatz, vorbei an dem großen Metallelefanten und den Schaukeln und dann schnell, schnell Richtung Gymnasium.
Bereits nach Abzug der Franzosen im Sommer 1999 besuchte ich von außen noch mal diesen Spielplatz. Der Elefant stand schon damals nicht mehr da, und jetzt war der Spielplatz komplett abgebaut.
Die Wohnung
Die Zahl der Stufen die jede Treppe im inneren des Hauses hatte, kannte ich noch auswendig. Es war immer ein Spiel als ich klein war. 9 und nochmal 9, 9 und nochmal 9. Jetzt schlug mir das Herz bis zum Hals, 9 und nochmal 9, jetzt war ich da. Ich stand über zwanzig Jahre nach unserem Auszug wieder vor dem Wohnungseingang. Es gab keine Klingel mehr und auch keine Tür. Da war er, der lange Wohnungsflur. Meine Eltern hatten das Parkett im vorderen Teil der Wohnung Ende der siebziger Jahre versiegeln lassen. Das Dielenparkett war jetzt ein trauriger Anblick. Feuchtigkeit musste eingedrungen sein, und die Dielen waren aufgequollen und schoben sich hoch. Das Gebäude schien mir trotzdem sicher und ich ging in die Wohnung hinein.
Links der Diele befand sich die Küche, danach Toilette, Bad, Wandschränke und die hinteren Schlafzimmer. Auf der rechten Seite Salon, Esszimmer, Büro meines Vaters, mein Kinderzimmer und in der Mitte das meines Bruders. Die Wohnung hatte etwa 160 qm und noch einen langen schmalen Balkon, den man vom Büro, dem Esszimmer und dem Wohnzimmer betreten konnte. Ich stand im Esszimmer. Zwischen diesem Zimmer und dem Salon gab es eine große Glassschiebetür. Dort probte ich als kleines Mädchen gerne Ballett und stellte mir vor es wäre eine Bühne. Die Schiebetür war bereits raus.
Ich ging durch jedes Zimmer. Die Holzverkleidungen der Heizungen waren schon abmontiert, viele Einbauschränke ausgebaut. Es war ein sonderbares Gefühl.
Erinnerungen
Ich kam in mein Zimmer. Die Blumenwiese die ich als Tapete an der Wand hatte, war natürlich längst nicht mehr da.
Ich stand an dem Fenster an dem mein kleiner Schreibtisch früher einmal stand. Dort hatte ich oft mit Legosteinen kleine Häuser gebaut und versucht damit Marienkäfer zu züchten. Meistens waren sie am nächsten Morgen rausgeflogen. An diesem Weihnachtsmorgen gab es keine Marienkäfer mehr. Die großen Pappeln standen auch nicht mehr am Fenster. Im Sommer lauschte ich immer gerne vor dem Einschlafen bei offenem Fenster dem Geräusch der Pappelblätter im Wind zu. Es klang immer wie ein leiser feiner Regen und ich schlief als Kind damit gut ein. Es war sehr still in der Cité. Nur die Kiefern standen noch beim Spielplatz. Von dort sind wir als Kinder immer beim ersten Schnee mit unseren Schlitten den Hang hinunter auf den großen Parkplatz, um dem die Blocs Champs-Elysées, Montparnasse, Concorde und Etoile standen. Heute am Heiligabend 2003 hatte es nicht geschneit und man hörte auch keine Kinder draussen fröhlich lachen. Es war still in der Cité, totenstill.
Abschied
Ich nam innerlich noch einmal Abschied von dem Ort meiner Kindheit und nahm mir vor diese Verwandlung mit der Kamera die nächsten Monate festzuhalten. Vom Winter in den Frühling hinein verwandelte sich der Bloc Champs-Elysées allmählich in einen Steinhaufen und der Spielplatz in eine Stein- und Staubwüste. Vögel hörte man im Frühling nicht mehr und so mancher Forsythienstrauch wurde begraben, kaum war er erblüht. Manchmal erblickte man eine Taube in den Steingittern der Küchenbalkone. Marienkäfer habe ich keine mehr gesehen.
Nach dem kompletten Abriss der Cité Paris, sollen Reihen- und Doppelhäuser entstehen mit Gärten für Familien. Die Kinder werden nicht mehr Sylviane, Clothilde, Malika, Pierre, Manuel, Gilles, Vincent oder Olivier heißen. Es wird jedoch an der Zeit nach dem bald über 5 jährigen Dornröschenschlaf der Cité, dass Kinder wieder dort spielen, lachen und Marienkäfer fliegen lassen.
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